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leseprobe

 1

gefährliches spiel

Es war kalt. Bitterkalt. An diesem Tag war das Grau der Brandung noch intensiver, noch bedrohlicher als sonst im Winter. Nur die tintenblauen Regenwolken über dem Horizont und die strahlend weißen Gischtzungen traten deutlich hervor. Der Novemberwind hatte aufgefrischt und kam pulsierend aus Westen, genau von vorn, direkt in ihre Gesichter.
   Es war einer dieser Tage, an denen sich andere siebzehnjährige Mädchen in ihre Zimmer verkrochen, sich zwickende Flechtfrisuren oder Space Buns machten, Songs von Ace of Base oder Culture Beat summten, verheulte Tagebücher bemalten oder sich Clerasil auf die verpickelten Stirnlandschaften pinselten.
   Die beiden Freundinnen auf dem Deich hatten etwas ganz anderes im Sinn. Sophie und Greta beobachteten die Brandung. Seit etwa zwanzig Minuten harrten sie dort schon aus. Der eiskalte Wind umschlich ihre Neoprenanzüge wie der eisige Atem eines Grönlandtiefs. Greta hatte sich ihr Surfboard vor die Brust geklemmt und spähte unruhig an ihren eisverkrusteten Wimpern vorbei auf die raue See. Neben ihr sah Sophie aus wie ein riesiger spargeldürrer Leuchtturm. Die schlanke Blondine überragte ihre rothaarige Freundin fast um eine Kopflänge.
   „Pat und Patachon!“, ätzte die rote Greta immer mit einem Augenzwinkern, wenn sie sich gemeinsam Fotos ansahen, auf denen Greta wie die kleine glühende Schwester von Sophie aussah.
   Aber wenn es um das Meer ging, um das Abenteuer, um die höchste Welle, die beste Linie am Kamm des schäumenden Grau, dann waren sie sich ebenbürtig, gleichsam fanatisch, abenteuerhungrig und aufsässig und jagten fast unaufhaltsam den besten Wellen hinterher, bis sie bibbernd und schlotternd endlich wieder aus der Dünung kamen und mit ihren roten Gesichtern prustend und lachend über den Rasen und den Deich wieder zum Hotel rannten.

   Heute war der Westwind besonders wild. Die Unterwasserströmung zog unbarmherzig nach draußen. Ins Nichts. Nur ein paar Bohrinseln noch, die wie minimalistische Industriedenkmäler auf dem tiefgrauen Horizontstrich tanzten, dann kamen fast fünfhundert Seemeilen offenes Meer bis nach England.
   Die Nordsee hatte sich jetzt endlich aufgeschaukelt, aufgepustet wie ein Drache, den sie reiten wollten. Und sie sprangen gemeinsam in das Eiswasser. Sophie hatte nach einer knappen Minute schon die dritte Wellenreihe erreicht. Ab hier wurde die Strömung zu gefährlich. Greta war hinter ihr geblieben, wagte einen kurzen Sprint auf einer mickrigen Welle und Sophie lachte sie aus, nahm selbst eine gigantische graue Wand aufs Korn, die wie ein Ozeanriese auf sie zu rollte, es wurde still und Sophie sprang aufs Board. Sie genoss den Moment, fand eine gute Linie und bretterte auf den Strand zu. Aber seltsamerweise grollte das Meer unter ihr nicht nur, ein helles Pfeifen hatte sich unter das Raunen gemischt. Ein Fremdkörper. Hohe streichende Töne, ein vibrierendes Timbre. Sophie glitt geschmeidig an kleinen Eisschollen vorbei auf den Deich zu, der rotweiße Leuchtturm dahinter diente ihr als Marke. Die Töne hinter ihr wurden heller, die Welle glatt und schnell, und Sophie schoss elegant durch den Wellentunnel, auf der Barrel durch die Pipeline. Sophie liebte die Gestik dieser fremden Begriffe. Gerade als sie die Betonsperren am Strand erreichte und sie im seichten Wasser wieder absprang, wurde ihr klar, was sie da die ganze Zeit hörte. Diese hohen Töne waren Schreie. Aus dieser außerordentlichen Brandung, diesem epischen Teppich aus meterhohen Wellen, grüngrauen Wassermassen, diesem prickelnden und eiskalten Spektakel, kamen verzweifelte glasklare Hilferufe.
   Erst suchte sie für einen kurzen Moment den Rasenstrand nach anderen Surfern oder zufällig auftauchenden Spaziergängern ab. Aber bei dieser Eiseskälte trieb sich niemand freiwillig am Deich oder gar im Wasser herum. Sophie spürte die aufkommende Angst. Wie eine brechende Monsterwelle prallte eine fordernde Kraft auf ihren Brustkorb und nahm ihr den Atem.
   Sie starrte auf die Brandung, auf den Wellenteppich. Es dauerte ein paar Sekunden, dann sah sie etwas Oranges aufleuchten, weit hinter der dritten Wellenreihe, schon beinahe an der Sandbank, die unter Wasser den Küstenbereich von der offenen See trennte. Jeder, der hinter die Sandbank geriet, war verloren. Die ablandigen Strömungen rissen sogar Rettungsschwimmer aufs Meer hinaus.

   „Greta!“, brüllte sie. „Um Himmels willen, Greta!“

   Immer wieder tauchte die rote Greta zwischen den Wellen auf und winkte hektisch mit den Armen. Das Board war jetzt verschwunden, und ohne Rettungsweste war sie in der schäumenden Weite nahezu unsichtbar geworden. Ein winziger schwarzer Fleck. Ein tanzender Schatten, hilflos, herrenlos und verloren.

   Fast an der Sandbank, dachte Sophie hektisch. Und das war auch schon der letzte klare Gedanke, der Sophie durch den Kopf ging, als sie kurz entschlossen mit dem Surfboard wieder ins Meer sprang und wie verrückt aufs offene Meer hinaus paddelte. Sophie kannte die Gefahren, die kleinen messerscharfen Eisschollen, die überall trieben, sie kannte die Grenzen, das mögliche Kollabieren, die kalte Müdigkeit und wusste, wie schnell man hier draußen sterben konnte. Höchstens ein paar Minuten blieben ihr, selbst mit dem dicken Neopren, bis sie umkehren müsste, bis ihr Leben auf einen minimalen Rest heruntergekühlt und alle brennbaren Zuckerreserven aufgebraucht sein würden. Ein paar Minuten, für ihre Greta, für die flammende Greta aus Kasibor, die ihr Leben lang nur von Italien geträumt hatte und auf dieser langsamen Insel in Nordfriesland gelandet war.

  Sophie war eine ausgezeichnete Schwimmerin und hatte so etwas wie einen natürlichen Kompass als siebten Sinn. Hatte sie einmal eine Richtung, konnte sie nichts auf der Welt von diesem Weg abbringen. Erst nach der Sandbank erreichte sie Greta, die erschöpft ihre Arme sinken ließ und wusste, dass sie nun beide verloren waren.

    „Du blöde Kuh!“, schrie Greta. „Warum tust du das? Jetzt musst du auch sterben!“

   Sophie zog ihre Freundin wortlos hinter sich aufs Board und wendete. Jetzt konnte auch sie sehen, dass die Lage aussichtslos war. Die Wellen hatten sich zwar ein wenig beruhigt, aber sie waren auf das offene Meer hinausgetrieben und befanden sich längst hinter der rettenden Sandbank. Zudem wusste Sophie, dass gerade jetzt die Ebbe einsetzen würde und das Wasser zusätzlich in Windeseile vom Land weg ziehen müsste.

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